Seinabo Sey
„Pretend“
Seit sie vor knapp zwei Jahren mit ihrem umwerfenden Track „Younger“ erstmals die Blogs erobern konnte, hat Seinabo Sey, die in ihrem unkonventionell-überraschenden Pop-Entwurf auch mit Soul und Noir-Stimmungen flirtet, kontinuierlich weiter an ihrem Sound gefeilt und mit jedem weiteren Albumvorgeschmack für Furore gesorgt. Man hört sofort, dass die Schwedin alles andere als ein „typischer Popstar“ ist – dafür ist sie viel zu smart –, und der US-Rolling Stone definierte ihren Sound bereits als Mischung aus „Nina Simone und Moby zu Zeiten von ‘Play’“, als „natürlichen Blues für das neue Jahrtausend“. Bei The FADER waren es nur vier Worte, mit denen die Redakteure ihre Stimme beschrieben: „this woman has power“. Während sie inzwischen so viele #1-Hits bei Hype Machine gelandet hat, dass man sie gar nicht alle in einem Text wie diesem aufzählen kann – unter anderem das nachdrückliche „Hard Time“ und „Younger“ –, steht die Schwedin nun mit ihrem Debütalbum „Pretend“ in den Startlöchern, auf dem sie Genregrenzen bewusst ignoriert und tiefe Gefühle artikuliert: Es ist ein Pop-Album, in Soul getränkt und durchzogen mit grossen Melodien, über denen sie dermassen offen aus ihrem Leben berichtet, dass man sich sofort damit identifizieren kann. „Dieses Album handelt wirklich durchweg von meinem Leben“, berichtet sie. „Es geht um all die Dinge, die ich erlebt habe.“
Die vielschichtigen Klanglandschaften, die Seinabo Sey gemeinsam mit ihrem Produzenten Magnus Lidehäll (Mapei, Madonna) aufgenommen hat, spiegeln ganz klar das von vielen Ortswechseln geprägte Leben der Sängerin wider: In Stockholm als Tochter einer Schwedin und eines Gambiers zur Welt gekommen, zog sie im Alter von vier Jahren nach Gambia, wo sich ihr Vater Maudo Sey, der 2013 verstarb, auf seine Karriere als Sänger konzentrierte und damit massive Erfolge feierte. Es brauchte seine Zeit, bis Seinabo sich an die neue Umgebung gewöhnt hatte, schliesslich war nicht nur die Schule ganz anders, sondern das gesamte Leben dort war viel disziplinierter und strenger: „Ja, in der Kultur von Gambia spielt Disziplin eine sehr grosse Rolle: sei nicht so laut, setz dich hin... und man muss einfach viele Dinge lernen, was das angeht. Man bietet zum Beispiel einem anderen kein halbvolles Wasserglas an, sondern macht es wirklich randvoll. Meine Eltern waren zwar insgesamt schon recht locker drauf, aber gerade mein Vater konnte manchmal auch ganz schön streng sein.“
Da man von Kindern wie ihr verlangte, sich still in die Ecke zu setzen und möglichst schweigsam die Umwelt zu beobachten, entwickelte Seinabo schon bald ein extrem gutes Auge für Details, und dazu lernte sie, auch schmerzhaften Situationen etwas Schönes abzugewinnen – ein Wesenszug, der sich wie ein roter Faden durch ihr „Pretend“-Album zieht. Prägend war zudem, dass ihr Vater in Afrika eine Berühmtheit war, und allein die Vermutung, dass sie irgendwann so oder so in seine Fußstapfen treten würde, führte dazu, dass sie schon bald ganz andere Pläne machte: Sie wollte Rechtsanwältin werden. Die Single „Younger“ handelt von dem Wunsch, insgeheim doch Sängerin werden zu wollen – ohne die Sache jedoch wirklich in Angriff zu nehmen: „Ich frage mich da, warum ich nicht einfach das gemacht habe, was ich den Leuten immer als meinen größten Traum verkauft habe. Schliesslich gibt es, wenn man es zulässt, immer genug Dinge, die einen davon abhalten, wirklich an einer Sache zu arbeiten.“ Dasselbe Thema klingt auch im Titelsong an, der mit klassischen HipHop-Zitaten durchzogenen Single „Pretend“, die um die Zeile „Things are going just as they should, knock on wood“ gestrickt ist: „Das Stück handelt genau genommen von demselben Thema wie ‘Younger’“, meint auch Sey und fügt hinzu: „Ich bin da schon einen Tick weiter, so à la ‘Okay, immerhin habe ich schon einen Teil meines Weges zurückgelegt, aber all das könnte sich trotzdem immer noch von einem Moment zum anderen in Luft auflösen.“
Als sich Sey dann gerade an ihr neues Leben in Gambia gewöhnt hatte, zog ihre Familie wieder zurück nach Schweden, dieses Mal in die kleine Küstenstadt Halmstad: „Inzwischen mag ich es, andauernd umzuziehen“, sagt sie heute. „Mir fällt es sogar schwer, über einen langen Zeitraum am selben Ort zu bleiben. Wichtiger als die Orte selbst ist dabei, wie viel man über die Menschen lernt, wenn man andauernd umzieht. Inzwischen weiss ich echt ziemlich genau, was man machen muss, um an einem Ort über die Runden zu kommen.“ Obwohl sie also gar nicht so lange in Gambia bleiben sollte – gerade mal drei Jahre lang lebte sie dort –, prägte diese Erfahrung ihre Musik nachhaltig, wenn auch eher indirekt: „Man hört Afrika in meiner Musik wohl am ehesten darin raus, wie ich meine Songs schreibe. Ich bin nun mal mit Leuten aufgewachsen, die mir andauernd irgendwelche Ratschläge erteilten, und es gehört einfach zur gambischen Kultur dazu, so zu reden“, meint sie. Die Ratschläge, die man auf „Pretend“ findet, sind dabei vor allem an sie selbst gerichtet, wenn Sey in ihren Texten versucht, Hürden aus dem Weg zu räumen und Gefühle zu verstehen: „Younger“ und „Pretend“ sind sicherlich Paradebeispiele, aber auch das minimalistische „Easy“ geht in diese Richtung, wie auch der epische Klavier-Song „Poetic“ und der Song „Still“ mit seiner hauchfeinen Melodie (und Worten wie: „tell ’em I’m no fool“).
Obwohl sie als Teenager auf Popsängerinnen stand, die nicht gerade fär ihr mangelndes Selbstbewusstsein bekannt sind (z.B. Beyoncé, Alicia Keys), dauerte es eine ganze Weile, bis Sey sich als Sängerin wirklich wohl fühlte, weshalb sich auch das federleichte „Words“ mit ihrer einstigen Schüchternheit befasst: „Bis ich 13 war habe ich nie vor Publikum gesungen, und selbst danach habe ich noch echt lange gebraucht, um mich daran zu gewöhnen. Mich hat das einfach eingeschüchtert. Ich hab nie geglaubt, dass ich gut genug dafür bin.“ Damals schrieb sie bereits eigene Songs und auch viele Gedichte, und obwohl sie sich schon für erste Jura-Kurse in Halmstad eingeschrieben hatte, fasste sie mit 15 plötzlich den Entschluss, ganz alleine nach Stockholm zu gehen, um dort die Fryshuset-Schule zu besuchen, wo sie „Soul Music“ studieren wollte...
Der Umzug in die grössere Stadt brachte automatisch weitere Vorteile mit sich, denn über einen gemeinsamen Freund lernte sie schon bald Magnus Lidehäll kennen: „Ich hatte ehrlich gesagt gar nicht damit gerechnet, dass er mir antwortet, schliesslich hatte er ja davor schon mit so vielen grossen Namen gearbeitet. Ich dachte, er hat bestimmt keine Zeit für diese kleine Soul-Sängerin“, erzählt sie lachend. Doch die Chemie zwischen den beiden stimmte sofort, was auch daran lag, dass beide auf HipHop stehen und generell wenig von Schubladen und festen Genregrenzen halten. „Unsere Zusammenarbeit läuft deshalb so gut, weil wir beide wissen, was wir können, und wir versuchen erst gar nicht, uns in anderen Bereichen einzumischen: Er redet mir beim Gesang und bei den Texten nicht rein, und ich überlasse ihm die Produktionen, ohne mich da groß einzumischen. Anhand seiner älteren Produktionen wusste ich ja auch schon, was mir daran so gefällt. Dass er etwas Schönes kreieren könnte, war mir klar.“
Betrachtet man die Vita von Seinabo Sey, verwundert es nicht, dass ihr „Pretend“-Debüt auf der gemeinsamen Vision von nur zwei Individuen basiert: Seit ihrer Kindheit war sie gewissermassen dazu gezwungen, vollkommen unabhängig zu sein und alleine für das zu kämpfen, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Dazu musste sie lernen, geduldig zu sein, was auch erklärt, weshalb „Pretend“ insgesamt so ausgeglichen, ruhig und sanft, ja fast schon hymnenhaft klingt. „Ich mag es, wenn man fühlt, wie einen die Musik wirklich durchdringt beim Zuhören, wenn einfach nichts überstürzt ist. Mir ist wichtig, dass die Leute genug Zeit haben, um die Songs auf sich wirken zu lassen.“ Nimmt man sich die nötige Zeit, entdeckt man zwischen den vielschichtigen Arrangements ihres Debütalbums eine ganze Palette von Gefühlszuständen, die Seinabo Sey einzukreisen versucht: Von „Hard Time“ – übrigens ihr persönlicher Favorit –, einer aggressiven Kampfansage, bis hin zum von elektronischen Beats dominierten „Who“, in dessen Verlauf sie zum Ausdruck bringt, dass sich alles im Leben ändern lässt, wenn man nur hart genug daran arbeitet.
Der wahrscheinlich emotionalste Moment ihres Erstlings ist „Burial“, der Abschluss-Track, den sie ihrem verstorbenen Vater gewidmet hat. Über schwermütigen Klavierklängen und dramatischen Streichern singt sie zunächst „flowers across the sea/memories aren’t what they used to be“, um im Refrain dann doch neue Hoffnung zu finden. „Geschrieben habe ich den Song schon vor seinem Tod, aber als er dann starb, überarbeitete ich den Text noch einmal. Es geht um die Gefühle, die sein Tod bei mir ausgelöst hat“, berichtet Sey und fügt hinzu: „Wobei auch Freude und Erleichterung eine Rolle spielen.“ Es ist der perfekte Schlusspunkt für ein zutiefst ehrliches Album, das der Autorin dieser Songs und Zeilen genauso viel Mut zusprechen soll wie den Zuhörern.
„Seit ich 19 bin versuche ich nun schon mein Debütalbum fertigzustellen“, sagt sie abschliessend. „Es hätte auch schon früher passieren können, aber ich glaube nicht, dass es an einem früheren Zeitpunkt so geklungen hätte, wie ich das gewollt hätte. Ich habe gelernt, dass man die Dinge einfach organisch wachsen lassen muss.“ Keine Frage: Seinabo Sey hat einen langen Weg zurückgelegt, um bei diesem Album anzukommen. |