Nisse "Everything" ft. Rezar
Nisse ist ja inzwischen bekannt für seine zeitlich begrenzten Videoclips - in der Kürze liegt die Würze und so. Official Video war gestern, seine sogenannten "Performance Videos" lohnen sich auch so. Im Clip zur neuen Single "Everything", die als Fokussingle des kommenden Albums "Ciao" gehandelt wird spielt er den Song fast zaghaft am Klavier an und verbreitet mit seiner Ausnahmestimme ganz schön Gänsehaut. Weil bei dem Hamburger Singer/Songwriter alles Schlag auf Schlag geht, gibt es diese Woche auch noch das Video zur neuen Kollabo mit Tokio Hotel Frontmann Bill Kaulitz, der darauf seit über 8 Jahren zum ersten Mal wieder deutsch singt. Das wir das noch erleben dürfen. "Vogel aus Gold" heißt das gute Stück.
"Everything I know is you, never letting go of you."
Album/EP: Ciao
Biografie - Nisse
Es war ein stürmischer Tag im August als Nisse geboren wurde. Vielleicht ein Vorzeichen auf seinen unbeständigen Lebensweg und die Rastlosigkeit mit der sich Nisse auf die Suche nach einem ihm eigenen Klang machen würde. Er wuchs im Grenzgebiet zwischen Kuhdorf und der Harburger Industrie des Phoenix-Viertels auf, tief im Süden Hamburgs, oder im Vorort der Hölle, wie Heinz Strunk die Gegend in "Fleisch ist mein Gemüse" beschreibt, wo das Entertainment der gelangweilten Dorfjugend aus Saufereien und Prügeleien, aus GTI-Tunen und den Festen, die so ein Nest zu bieten hat, bestand. Das Einzige, was Nisse daran mochte, war die Musik: Drafi, Ideal, Falco, Reim, Kunze, Lindenberg, Nena, Reiser, Michaels Jackson und wie sie alle hiessen.
Kein Kind mehr, aber auch noch kein Mann, ging Nisse in England zur Schule. Ausgerechnet im Land der Beatles und der Rolling Stones fand er zum deutschen Hip Hop: Advanced Chemistry, Blitzmob, die Reimenden Antifaschisten (RAF) und weitere Untergrund-Gruppen wurden für ihn zu Helden seiner Muttersprache, Meister der Metrik und Phonetik. Besonders Torch und die Stieber Twins prägten seine ersten musikalischen Gehversuche.
Mit 17 Jahren zog Nisse nach Hamburg St. Pauli: Der Blick aus seinem Fenster ging in die legendäre Herbertstraße, auf das Leben von Huren, Zuhältern und Freiern - Sirenen lieferten die Hintergrundmusik. Eine prägende Zeit, vor allem auch musikalisch. Seine Jungs und er waren nun Hip-Hop-Aktivisten, die mit Rap versuchten, ihre Welt zu gestalten. Die Karriere blieb allerdings aus, der Freundeskreis, sowie die eigenen Erwartungen, mit der Leidenschaft zur Musik zu überleben, zerbrachen. Sinnkrise.
Nisse machte Schluss mit der Szene, die ihn nicht vorangebracht, ihm sogar die Orientierung genommen hatte. Er wollte kein strikter Hip-Hop-Faschist mehr sein. Sein Arbeitsalltag war ihm nämlich strikt genug: Zeitarbeit für 5,80 Euro die Stunde, zermürbenden Schichten auf Baustellen, in Fabriken oder Lagerhallen. Er schuftete zwei Jahre an Orten, gefüllt mit Menschen, deren sozialen Schichtungen jede Minute sichtbarer wurden, als man es sich wünschen würde. Zeichensprache oder Fresse halten, war hier der normale Umgangston.
Es war die anstrengendste Zeit seines Lebens, sagt Nisse über dieses Kapitel. Aber er sog jeden Eindruck auf und verarbeite seine Gedanken zu Texten, zu Gedichten über das Erlebte und wurde offener für andere Genres: The Beatles, Grönemeyer, Prince, Bowie, Bill Withers, The Streets, Depeche Mode, sowie den gesamten Motown-Katalog. Die einzige Konstante: Michael Jackson, noch so ein August-Junge. Nisse erlebte ihn zwei Mal live. Egal, welche neu entdeckte LP für den Hamburger gerade der heilige Gral war, Michael war immer der Messias, der von Gott gesandte. Mit jedem Album riss er neue Grenzen ein, machte die unterschiedlichsten Hörer zu Freunden und setzte die kreative Messlatte noch höher. Er wusste einfach, wie man Genres gekonnt vereint. Was für Michael R&B und Disco-Funk war, war für Nisse Rap und Soul, was für den King of Pop dann Rock-, Industrial- und Hip-Hop-Einflüsse wurden, waren für Nisse Chanson, Garage, Indie und elektronische Musik.
Da keiner all diese Richtungen in Nisses Kopf verstand, versuchte er sich irgendwann selber mit seinem Discount-Rechner und einem veralteten Musikprogramm daran, die Musik zu machen, die noch in den Sternen stand. Mit den Notizen aus dem Alltag, den Schicksalsschlägen des Lebens und den Gedichten über das Geschehene schraubte er von nun an einfach selbst an seinen Demos. Nebenbei holte er sein Abitur nach und begann eine Ausbildung als Medienkaufmann, in einer der exklusivsten Adressen der Stadt. Auf der Elbseite, genau gegenüber der alten Arbeitsstätte im Hafen. Die Gegensätze hätten krasser nicht sein können.
In der Hoffnung, dass ihm die Ausbildung die fehlenden Werkzeuge geben würde, blieb er diesmal auf der Spur: 9 Stunden Arbeit, 9 Stunden Musik und 6 Stunden für Heimweg, Essen und Schlaf. So ging das zwei Jahre, dann hatte er den Schein in der Tasche und das Handwerk, um seine Kunst allein umzusetzen. Sein Traum, musikalische Mauern einzureißen, wurde immer klarer. Dass das Musikfernsehen langsam ausstarb und die Branche wegen des Internets schwere Zeiten durchmachte, spornte ihn erst recht an: 28 Quadratmeter-Bude, kein Urlaub, kein Kino, keine Party - Nisse arbeitete nun wie ein Besessener an seinem Sound, er konnte und wollte sich nichts nebenbei leisten.
Und genau davon lebt seine Musik: Abseits von Ehrgeiz und Talent, waren es genau diese Kontraste, die Irrungen in seinem Leben, die den unverwechselbaren Stil prägten. Es sind die Höhen und Tiefen, die Enttäuschungen und die Träume. Es sind grosse Sounds, die in unberechenbaren Wellen eine kleine willensstarke Jolle in die Welt tragen - an einem stürmischen Tag im August.
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